2019

Das menschliche Gehirn – ein unvergleichliches Netzwerk

Zwischen den Stromflüssen in unserem Gehirn und dem hiesigen Stromnetz lassen sich spannende Parallelen ziehen. Trotzdem bleibt das Organ ein Mysterium, dessen Erforschung wohl nie ganz abgeschlossen sein wird.

Autorin: Silvia Zuber


Interview mit Prof. Dr. Lutz Jäncke, Lehrstuhl für Neuropsychologie an der Universität Zürich.
Prof. Dr. Lutz Jäncke
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Prof. Dr. Lutz Jäncke
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Herr Jäncke, wie viel wissen wir über das menschliche Gehirn?
Das lässt sich schlecht quantifizieren. Wir wissen viel mehr als vor 30 oder 40 Jahren. Vor allem in den letzten 20 Jahren haben wir enorme Fortschritte gemacht und viel Neues erfahren. Ich vermute jedoch, dass wir nie alles darüber wissen werden.

Das Übertragungsnetz ist sehr unflexibel in Bezug auf kurzfristige Veränderungen. Wie steht es mit dem Gehirn?
Das menschliche Gehirn ist ein ausserordentlich flexibles Organ. Es verändert sich stetig aufgrund von Erfahrungen, der individuellen Umwelt und seiner Reifung. Die Konsequenz aus dieser Veränderbarkeit ist die ausserordentliche Lernfähigkeit des Menschen. Wir sind mit einem Gehirn ausgestattet, das uns quasi zum Lernen und zur Weiterentwicklung zwingt. Instinkte, wie sie in der Tierwelt existieren, spielen beim Menschen eine sekundäre Rolle.

Gibt es eine Leitstelle im Gehirn wie Swissgrid Control in Aarau?
Nein, die gibt es nicht. Das Gehirn ist ein inhärent funktionierendes System ohne Chef oder Zentrale. Wir können das Gehirn nicht mit klassischen Kontrollsystemen, wie wir sie aus der Technik kennen, vergleichen. Es ist eher ein System, das sich selbst organisiert.

Können Hirnbereiche andere bei Ausfällen kompensieren?
Ja, das gibt es in vielfältiger Art und Weise. Wenn Sie zum Beispiel blind geworden sind, werden die Hirnbereiche, die auf die visuelle Informationsversorgung spezialisiert waren, von anderen Funktionsbereichen übernommen. Überwacht man nach einigen Jahren die Gehirnströme des erblindeten Menschen beim Lesen von Brailleschrift, erkennt man sehr gut, wie die zuvor nicht mehr benutzten Bereiche durch die taktilen Bereiche im Gehirn übernommen wurden. Unser Gehirn ist also ein sich reorganisierendes System, wo auch Netzwerke, die nicht mehr gebraucht werden, bis zu einem gewissen Grad wieder eingebunden werden.

Unser Gehirn ist ein komplexes Netzwerk. Welcher Logik folgt es?
Es gibt Regeln im Gehirn, die wir aber nicht komplett verstehen. Die Sprache des Gehirns ist noch nicht entschlüsselt. Wir wissen, dass gewisse Hirngebiete andere beeinflussen, und dass elektrische Oszillationen ein wichtiges Kommunikationssignal innerhalb des Gehirns darstellen.

Elektrische Energie geht den Weg des geringsten Widerstands. Wie fliessen die Ströme im Gehirn?
Es gibt verschiedene Stromflussarten im Gehirn. Einerseits gibt es Ausbreitungsprozesse über die Kabelsysteme im Gehirn, die sogenannten Axone, bei denen die Elektrizität über ebendiese Kabel verbreitet wird. Dann gibt es aber auch sprungartige Mechanismen. Dort springen die Erregungen von bestimmten Bereichen auf andere über, was die Geschwindigkeit der Flüsse steigert. Daran, wie viel Strom im Gehirn fliesst, können wir heutzutage teilweise sogar erkennen, welche Tätigkeit ein Mensch gerade ausführt.

Die Energieversorgung ist eine Symbiose zwischen Energie- und Datenflüssen. Wie werden Informationen im Gehirn übertragen?
Im Gehirn ist es immer die gleiche Art der Informationsübertragung. Nur die Verteilung verändert sich. Das Netzwerk im Gehirn braucht immer ungefähr ein Fünftel der Körperenergie. Schwankungen befinden sich dabei im unteren einstelligen Prozentbereich.

Die Kapazitäten der Leitungen im Übertragungsnetz sind begrenzt. Ist dies beim Gehirn auch so?
Der Mensch hat eine begrenzte neurophysiologische Ressource, die nicht überschritten werden kann. Wir können unsere Ressourcen jedoch optimieren. Wir können uns zum Beispiel so trainieren, dass wir bestimmte Fertigkeiten so weit automatisieren, dass wir dafür immer weniger unserer vorhandenen Ressourcen benötigen. Diese Automatisierung bringt dann einige Vorteile mit sich. Einer davon ist, dass wir mehrere automatisierte Fertigkeiten gleichzeitig oder kurz nacheinander ablaufen lassen können, was dann zum Multitasking führt.

Was passiert bei einer «Überlastung»?
Es gibt verschiedene Levels von Überlastungen des Gehirns.  Im Falle eines starken Traumas kann es sein, dass das Gehirn in andere Funktionsmodi umschaltet. Daraus resultieren Störungen des Gehirns. Zum Beispiel Dissoziationsstörungen, bei denen ein Mensch zu einer ganz anderen Person werden kann. Oder beim Fatigue­Syndrom, wo das Gehirn in einen anderen Modus wechselt, was Erschöpfungszustände hervorruft. Wann ein Gehirn überlastet ist, hängt jedoch stark vom einzelnen Individuum ab. Nicht für jeden Menschen bedeutet dieselbe Menge Reize die gleich hohe Belastung. Es geht also im Endeffekt um die subjektive Interpretation einer Situation, die eine Überlastung begünstigt oder eben nicht.

Im elektrischen Netz sorgen Schutzmechanismen dafür, dass nicht das gesamte System zusammenbricht. Wie vermeidet das Gehirn Totalausfälle?
Dafür sorgen Kompensationsmechanismen. Das geht aber nicht ohne grossen Einsatz des betroffenen Menschen. Umliegende Bereiche des Gehirns müssen dazu extrem stimuliert werden, damit ein abgestorbener Bereich des Gehirns so rasch wie möglich isoliert und eine Verbreitung des Absterbens verhindert wird. Wenn aber der Hirnstamm ausfällt, geht gar nichts mehr.

Der Mensch ist sehr unvernünftig und extrem manipulierbar

Professor Lutz Jäncke

Behält das Gehirn immer die volle Kontrolle über den Körper?
Das Gehirn beobachtet nicht jede kleinste Aktivität in der Peripherie. Vieles läuft automatisch ab und wird direkt in den Organen oder vom Rückenmark aus gesteuert. Die Kontrolle behält es dabei aber immer. Alles, was gefühlt wird, wird auf einer Basis von Informationen generiert, die in der Peripherie entstehen und nach oben in den Kortex geschickt werden.

Wie viel läuft denn automatisch ab?
90 Prozent können wir und 10 Prozent wissen wir. Der Grossteil wird somit komplett automatisch ausgeführt. Vielleicht ist dieser Anteil sogar noch grösser. Wir kontrollieren viel weniger bewusst, als wir uns das gedacht hätten. Das ist bei allen Menschen gleich.

Was kann das Übertragungsnetz von der Funktionsweise des Gehirns lernen?
Im Moment lernen wir in der Hirnforschung eher von der Technik als umgekehrt. Wir ziehen zum Beispiel mathematische Algorithmen heran, um die Hirnfunktionen zu verstehen. Für die Zukunft interessant ist die Selbstorganisation des Gehirns. Diese auf technische Systeme zu übertragen, könnte zu einer spannenden Herausforderung werden.

Wie steuerbar sind der Mensch und sein Gehirn?
Der Mensch ist sehr unvernünftig und unfassbar anfällig für Manipulation. Wir werden mit Massen von Informationen überflutet und von allen Seiten, auch unbewusst, manipuliert. Für diese Informationsflut ist unser Gehirn von Natur aus nicht konstruiert worden. Das sprengt die Fähigkeiten, für die unser Gehirn gemacht ist. Unser Gehirn ist somit ständig extrem gefordert, um all diese Informationen zu verarbeiten. Ich bin nicht sicher, ob das für uns und unser Gehirn gut ist.

Was fasziniert Sie persönlich am Gehirn?
Wie kann dieses 1,2 bis 1,4 Kilogramm grosse Organ so einen unfassbaren Einfluss auf den Menschen und die Geschicke des Menschseins haben? Das ist ein Grund, weshalb ich in die Hirnforschung gegangen bin.

Und was überrascht Sie immer wieder daran?
Mich überrascht die Unvernunft des Menschen zusehends. Im alltäglichen Verhalten sind wir unverständliche Wesen. Dazu kommt, dass der Mensch nicht besser wird. Er ist im Laufe der Evolution nicht gescheiter geworden. Und das ist eigentlich schon sehr bemerkenswert, nicht?


Fakten zum Gehirn

  • Nervenimpulse vom und zum Gehirn können eine Geschwindigkeit bis zu 432 km/h haben.
  • Im wachen Zustand erzeugt unser Gehirn zwischen 10 und 23 Watt – genug, um eine Glühbirne zum Leuchten zu bringen.
  • Obwohl das Gehirn nur 2 Prozent unseres Körpergewichts ausmacht, verbraucht es 20 Prozent unserer gesamten Energie.
  • Zusammengerechnet sind die Blutgefässe im Gehirn ca. 600 km lang.
  • Jedes Mal, wenn eine Erinnerung entsteht, werden neue Verknüpfungen im Gehirn gebildet.
  • Die durch den Duft von Schokolade ausgelösten Hirnströme haben eine entspannende und belohnende Wirkung.

Autorin

Silvia Zuber
Silvia Zuber

Senior Communication Manager



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