Verteilnetze Netz

Das Stromnetz der Zukunft braucht die Kantone

Vierter Beitrag der Blog-Serie «Unser Netz» zur strategischen Netzplanung bei Swissgrid

Autorin: Sandra Bläuer


Um das Schweizer Stromnetz weiterzuentwickeln, braucht es einen Schulterschluss aller Partner im System. Dazu gehören auch die Kantone. Heute bringen sie sich vor allem über die regionalen Netzbetreiber und beim Sachplan Übertragungsleitungen über die Begleitgruppe ein. Wie die Kantone künftig noch mehr Einfluss auf Netzprojekte nehmen und zu deren Beschleunigung beitragen könnten, diskutieren Stephan Attiger und Marc Vogel im Experteninterview.

Im Gespräch

Stephan Attiger, der Kanton Aargau gilt als Energiekanton. Inwiefern beschäftigen Sie sich als Aargauer Energiedirektor mit dem Stromnetz?

Stephan Attiger: Für ein sicheres, leistungsfähiges und effizientes Stromnetz sind die Netzbetreiber verantwortlich. Als Energiedirektor beschäftigt mich die Frage, wie das künftige Energiesystem aussehen könnte und welche Herausforderungen das Stromnetz dann zu meistern hat und wo das Netz an seine Grenzen kommt. In nicht allzu ferner Zukunft werden wir mit der Stilllegung der Kernkraftwerke grosse Produktionskapazitäten verlieren. Neue, aber viel kleinere und dezentrale Produktionsanlagen entstehen, vor allem Solaranlagen. Hinzu kommt das Wechselspiel zwischen Speicherung und Verbrauch. Hier braucht es netzfreundliche Lösungen, mit denen Überschüsse und Defizite im Stromnetz flexibel bewirtschaftet werden. Elektrofahrzeuge stellen eine solche von mehreren möglichen Lösungen dar.

Welche Anforderungen haben Sie ans Stromnetz der Zukunft?

Stephan Attiger: Zweifellos hat die Versorgungssicherheit oberste Priorität. Das heisst für mich erstens, dass die einzelnen Netzelemente den Anforderungen der künftigen Stromversorgung genügen müssen. Zweitens soll die Ausfallsicherheit erhöht werden. Weiter steht für mich die bereits erwähnte Dezentralisierung der Stromversorgung und damit auch die Bidirektionalität im Fokus: Strom muss künftig in beide Richtungen durchs Netz fliessen können. In dieser Hinsicht ist unser heutiges Stromnetz noch nicht fit – wenn zum Beispiel dezentral künftig deutlich mehr Strom erzeugt wird als heute verbraucht wird. Es gibt aber erste Schritte hin zu einem intelligenten Netz. Mit dem Roll-out intelligenter Stromzähler sind wir im Kanton Aargau auf gutem Weg, um die Flexibilität im Stromnetz nutzbar zu machen.

Wie können die Kantone Einfluss nehmen, damit sich das Stromnetz in die gewünschte Richtung entwickelt und die Energiewende gelingt?

Stephan Attiger: Die Möglichkeiten der Kantone, direkten Einfluss zu nehmen, sind limitiert. Denn die Netzbetreiber sind für das Stromnetz und seine Weiterentwicklung verantwortlich. Als Kanton können wir nur über unsere Beteiligungen an den Netzbetreibern lenkende Vorgaben machen: bei der Axpo über die Eignerstrategie und bei der AEW via Eigentümerstrategie. Beim Übertragungsnetz wird die Netzentwicklung durch Swissgrid geplant und durch die ElCom überprüft. Dazu gibt es Mitwirkungsprozesse, Begleitgruppen und Vernehmlassungen, bei denen sich die Kantone einbringen. Im Rahmen seiner Möglichkeiten setzt sich unser Kanton intensiv für eine zielgerichtete, nachhaltige und ausgewogene Netzentwicklung ein.

Marc Vogel: Die Grundlage für den Planungsprozess beim Übertragungsnetz ist der sogenannte Szenariorahmen, der vom Bundesrat verabschiedet wird. Szenarien zur Energieversorgung von morgen und übermorgen sind nötig, um die künftigen Lastflüsse in den Stromleitungen für verschiedene Annahmen zu simulieren. So lassen sich Engpässe und der Bedarf für Netzprojekte erkennen. Der Szenariorahmen wird unter der Leitung des Bundesamts für Energie erstellt. Wie Stephan Attiger erwähnt hat, können dabei alle betroffenen Parteien mitwirken. Mir scheint es wichtig, dass die Kantone bei der Erarbeitung des nächsten Szenariorahmens noch mehr Einfluss nehmen und sich gut untereinander abstimmen. So finden ihre kantonalen Positionen und Ziele Gehör. Damit wird sichergestellt, dass die Summe der 26 Energiestrategien der Kantone in etwa der nationalen Strategie des Bundes entspricht. Ausserdem erhalten die Netzbetreiber klare Signale, wo in der Schweiz welche Erzeugungstechnologien in welchem Zeitraum ausgebaut werden und wo künftig welche Verbraucher hinzukommen. Dadurch beeinflussen die Kantone nicht nur den Szenariorahmen, sondern letztlich auch die regionale und lokale Netzentwicklung.

Im Rahmen seiner Möglichkeiten setzt sich unser Kanton intensiv für eine zielgerichtete, nachhaltige und ausgewogene Netzentwicklung ein.

Stephan Attiger

Wie arbeiten die Kantone und Swissgrid für die Planung des künftigen Stromnetzes schon heute zusammen?

Marc Vogel: Wenn der Szenariorahmen vorliegt, brechen die jeweiligen Netzbetreiber die nationalen Ziele auf ihr Versorgungsgebiet herunter. Dieser von Swissgrid gemeinsam mit den direkt ans Übertragungsnetz angeschlossenen Verteilnetzbetreibern durchgeführte Prozess heisst Regionalisierung. Bisher sind die Kantone hier nur indirekt als Eigentümer der Verteilnetzbetreiber involviert.

Stephan Attiger: Die Abstimmung zwischen Swissgrid und den Kantonen findet heute entweder auf Ebene Geschäftsleitung oder je nach Bedarf auf Ebene der technischen Fachpersonen statt.

Marc Vogel: Sobald wir über die regionalisierten Daten verfügen, ermitteln wir den Netzverstärkungsbedarf. Sofern ein bestehendes Leitungstrassee verstärkt oder sogar ein neues benötigt wird, eröffnet der Bund dazu ein sogenanntes Sachplanverfahren. Im Rahmen dieses Verfahrens werden Technologie, Trasseeführung und Mastformen konkret festgelegt. Die Kantone sind in diesen Prozess im Rahmen einer Begleitgruppe einbezogen. Heute planen alle Stromnetzbetreiber wie die SBB, die Verteilnetzbetreiber und Swissgrid sowie die Strassen- und die Schienennetzbetreiber ihre Netze getrennt. Potenziale zur Bündelung und sonstige Synergien werden häufig zu spät erkannt und lassen sich gegebenenfalls nicht optimal nutzen. In der regionalen Koordination aller Infrastrukturbetreiber und Behörden sehen wir die Chance, Infrastrukturen in der dicht besiedelten Schweiz effizienter planen und bauen zu können. Seitens Swissgrid regen wir daher an, die Kantone im Rahmen des regionalen Koordinationsprozesses früher einzubeziehen.

In der regionalen Koordination aller Infrastrukturbetreiber und Behörden sehen wir die Chance, Infrastrukturen in der dicht besiedelten Schweiz effizienter planen und bauen zu können.

Marc Vogel

Wie könnte der regionale Koordinationsprozess aussehen?

Marc Vogel: Diese erfolgsversprechende Idee wurde in den letzten zehn Jahren im Kanton Tessin entwickelt und erfolgreich erprobt. Sie sieht vor, dass die Netzinfrastrukturbetreiber ihren Netzausbaubedarf für die nächsten Jahrzehnte allen relevanten Stakeholdern präsentieren. Ein gemeinsam beauftragter Umwelt- oder Raumplaner sucht dabei eine Lösung, welche die Bedürfnisse der Infrastrukturbetreiber befriedigt und dennoch Bevölkerung, Umwelt und Landschaft möglichst wenig beeinflusst. Gleichzeitig werden Bündelungspotentiale genutzt. Kantone und Gemeinden können in dieser frühen Phase ihre Interessen einbringen. Es wird jene Variante gewählt, die von allen Parteien als die sinnvollste angesehen wird. Das reduziert die Zahl von Einsprachen und beschleunigt idealerweise die Genehmigungsprozesse. Das Bundesamt für Raumentwicklung hat empfohlen, diesen Lösungsansatz in der ganzen Schweiz anzuwenden. Das Konzept wurde bereits der Konferenz Kantonaler Energiedirektoren (EnDK) vorgestellt und soll von Fachleuten der Kantone, des Bundes und der Netzbetreiber detailliert ausgearbeitet werden.

Die langen Bewilligungsverfahren bei Netzprojekten liegen vor allem auch an Einsprachen. Wie können die Kantone dazu beitragen, die Zahl der Einsprachen zu reduzieren?

Stephan Attiger: Als Kanton Aargau ist uns sehr daran gelegen, die Interessen der Bevölkerung und der Gemeinden zu berücksichtigen und auf deren Vorbehalte bei solch grossen Projekten einzugehen. Hierzu stehen wir mit den jeweils Betroffenen im Austausch. Uns muss der Spagat gelingen, die nationale Versorgungssicherheit auf der einen Seite und die Interessen der Bevölkerung auf der anderen Seite in Einklang zu bringen.

Marc Vogel: Beim vorhin beschriebenen neuen Vorgehen zum Festlegen der Korridore könnten die Kantone ihren Gemeinden gegenüber klar kommunizieren: Wir haben verschiedene Varianten geprüft und uns für die verträglichste Lösung entschieden. Im besten Fall erhöht diese Botschaft nicht nur die Kooperation der Gemeindebehörden, sondern auch das Verständnis bei der Bevölkerung. Wenn der Gemeinderat hinter einem Projekt steht, kann dies auch bei den Bürgerinnen und Bürgern der Gemeinde Vertrauen schaffen.

Uns muss der Spagat gelingen, die nationale Versorgungssicherheit auf der einen Seite und die Interessen der Bevölkerung auf der anderen Seite in Einklang zu bringen.

Stephan Attiger

Um die Kosten für den Netzausbau zu begrenzen, ist auch die Bevölkerung gefragt: Wo dies möglich ist, sollte sie den Strom vermehrt dann verbrauchen, wenn ein grosses Angebot besteht. Wie lässt sich ein solches netzdienliches Verhalten erreichen?

Marc Vogel: Schon heute gibt es viele positive Beispiele für ein netzdienliches Verhalten. Unter anderem stellen Apps zur Eigenverbrauchsoptimierung sicher, dass Elektroautos dann geladen werden und Wärmepumpen dann laufen, wenn die Sonne scheint und die Photovoltaikanlagen Strom erzeugen. Dadurch wird der Stromaustausch mit dem Netz und somit der Netzausbaubedarf minimiert. Personen mit solchen Energielösungen sollten eine Plattform erhalten, ihre Lösungen vorzustellen und zu erklären. Die Kantone könnten dabei als Multiplikatoren und Kommunikatoren für gute Lösungen wirken, indem sie zum Beispiel Informationsmaterial zur Verfügung stellen. Gemeinden könnten Artikel darüber in ihren Publikationsorganen publizieren oder sogar Informationsanlässe durchführen. Auch die Kundenmagazine von kantonalen und lokalen Energieversorgern sollten stärker für diese Kommunikation genutzt werden.

Stephan Attiger: Ein weiterer Erfolgsfaktor für ein netzdienliches Verhalten sind meiner Meinung nach die intelligenten Stromzähler. Die von ihnen ermittelten Verbrauchsdaten lassen sich grafisch aufbereiten und auf Kundenportalen oder Apps von Energieversorgen darstellen – samt den Stromkosten. So können die Bürgerinnen und Bürger ihren Energieverbrauch und die Kosten im Auge behalten und werden motiviert, ihr Verhalten beim Stromkonsum zu optimieren und effizientere Geräte anzuschaffen.


Autorin

Sandra Bläuer
Sandra Bläuer

Communication Manager


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