Netz

Die 70%-Regel und die Schweiz

Oder warum 100 minus 70 nicht immer 30 ergibt

Autorin: Stephanie Bos


Die EU arbeitet mit Hochdruck an der Vollendung des Binnenmarktes für Strom. Die Implementierung des dritten Binnenmarktpakets schreitet voran. Gleichzeitig wurde das «Clean Energy Package» in Kraft gesetzt. Dieses wird derzeit schrittweise umgesetzt, was auch Konsequenzen für die Schweiz hat. Eine Massnahme, die das Clean Energy Package beinhaltet, ist die sogenannte 70%-Regel. Diese besagt, dass die EU-Mitgliedstaaten ab 1. Januar 2020 mindestens 70 Prozent der Kapazität ihrer Netzelemente für den Handel zwischen den EU-Mitgliedstaaten zur Verfügung stellen müssen. Einige Länder haben von der Ausnahmeregelung Gebrauch gemacht, diese Kapazitätszuteilung bis Ende 2025 stufenweise anzuheben. Mit der Umsetzung der 70%-Regel ist eine Zunahme des Handels innerhalb der EU zu erwarten.

Es gibt verschiedene Interpretationen, wie mit Nicht-EU-Staaten wie der Schweiz umgegangen werden soll. Momentan ist aber davon auszugehen, dass ohne entsprechende Vereinbarungen Flüsse mit Nicht-EU-Staaten nicht zu diesen 70 Prozent zählen. Der erhöhte Handel führt zu neuen Herausforderungen für das Schweizer Übertragungsnetz, insbesondere wenn der Handel mit der Schweiz nicht berücksichtigt wird.


Geplante und ungeplante Stromflüsse

Im Stromnetz gibt es verschiedene Flüsse. Sie werden grob unterteilt in geplante und ungeplante Stromflüsse. Die geplanten Flüsse entsprechen den getätigten Handelstransaktionen. Verkauft also bspw. Deutschland Strom nach Frankreich und der Strom fliesst direkt über die Grenze von Deutschland nach Frankreich, dann haben wir es mit einem geplanten Import-Export-Stromfluss zu tun. Oft fliesst aber bei solchen Handelsgeschäften physikalisch bedingt nur ein Teil des Stroms direkt über die Grenze. Der Rest des Stroms sucht sich einen Weg über andere Länder und so entstehen ungeplante Flüsse. Verkauft also bspw. Deutschland Strom nach Frankreich, fliesst ein Teil dieses Stroms unweigerlich als ungeplanter Transitfluss über ein anderes Land, wie bspw. Belgien. Beide Arten von Stromflüssen tauchen in grenzüberschreitenden Handelstransaktionen auf und zählen deshalb zu den 70% der EU-Regel.

Geplante Import/Export Flüsse
1/3: Geplante Import/Export Flüsse
Transitflüsse
2/3: Transitflüsse
Ringflüsse
3/3: Ringflüsse

Ein weiterer ungeplanter Stromfluss ist der sogenannte Ringfluss. Er kommt zu Stande, wenn bspw. Deutschland innerhalb des eigenen Landes Strom handelt, dieser Strom aber über ein anderes Land, bspw. durch die Schweiz, wieder zurück nach Deutschland fliesst. Der innerhalb eines Landes produzierte Strom wird also im gleichen Land verbraucht, beansprucht aber in der Zwischenzeit ausländische Leitungen. Mit dem Netzausbau in den europäischen Ländern kann der Ringfluss zwar minimiert, aber nie vollständig verhindert werden. Denn Strom sucht sich immer den Weg des geringsten physikalischen Widerstands. Der Ringfluss ist somit ein grenzüberschreitender Stromfluss, der zwar physikalisch vorhanden ist, aber in keiner grenzüberschreitenden Handelstransaktion in Erscheinung tritt. Entsprechend zählen die Ringflüsse nicht zu der 70% der EU-Regel.

De facto werden für den Export in die Schweiz nach der vollständigen Implementierung der 70%-Regel in der EU also nicht 30 Prozent der Übertragungskapazität gemäss Milchbüchlein-Rechnung, sondern weniger zur Verfügung stehen. Das ist noch nicht alles.

Im Stromnetz gibt es verschiedene Flüsse. Sie werden grob unterteilt in geplante und ungeplante Stromflüsse.


Einfluss auf die Schweiz

Swissgrid rechnet damit, dass der Handel innerhalb der EU im Zuge der Umsetzung der 70%-Regel zunimmt. Solange die Schweiz nicht adäquat in die dazu notwendigen Berechnungsprozesse der Netzkapazität einbezogen wird, ist in Folge eine massive Zunahme ungeplanter Stromflüsse durch die Schweiz zu erwarten. Sie erinnern sich, Transit- und Ringflüsse. Damit drohen häufiger Situationen, in denen Netzelemente von Swissgrid überlastet werden. Swissgrid muss dann in den Netzbetrieb eingreifen, um das Übertragungsnetz stabil zu halten. Das ist mit Aufwand und höheren Kosten verbunden.

Sollten unsere Nachbarländer ausserdem Probleme haben, die 70% zu erfüllen, besteht die Gefahr, dass sie die Grenzkapazitäten einseitig limitieren, um diese Regel für den Handel innerhalb der EU zu erfüllen. Sie werden demnach ihre internen Netzengpässe zeitweise auf Kosten der Exportkapazitäten für die Schweiz entlasten müssen. Konkret könnte das bedeuten, dass Deutschland und Frankreich – und damit die wichtigsten Stromexporteuer in die Schweiz –, um die 70% zu erreichen, die bisher vorreservierte Exportkapazität in die Schweiz zeitweise bis auf null reduzieren müssen.

Damit werden die Import- und Exportkapazitäten der Schweiz potenziell massiv beschnitten, ohne dass wir etwas dagegen tun können. Dies kann sich allgemein negativ auf die Netzstabilität und insbesondere im Winterhalbjahr auf die Versorgungssicherheit der Schweiz auswirken, denn im Winter ist die Schweiz auf Stromimporte angewiesen.

Swissgrid ist bestrebt, technische Vereinbarungen mit EU-Übertragungsnetzbetreibern zu treffen, welche die Situation der Schweiz im Kontext der 70%-Regel verbessern. Im Dezember 2021 konnte Swissgrid eine entsprechende Vereinbarung mit der Kapazitätsregion «Italy North» abschliessen. Ende Oktober 2021 haben die ÜNB der Region Italy North die 70%-Regel eingeführt. Swissgrid wendet als sogenannte «Technical Counterparty» die Regel ebenfalls an. Die neue Regelung kann voraussichtlich, bei jährlicher Genehmigung durch den betroffenen EU-Regulatoren, bis zur Einführung des Flow-Based Market Coupling in der Kapazitätsregion Italy North gelten. Anschliessend müssen sie mit hoher Wahrscheinlichkeit neu verhandelt werden.

Ein zwischenstaatliches Abkommen zwischen der Schweiz und der EU würde den Einbezug der Schweiz vorwegnehmen. Doch mit der Beendigung der Verhandlungen über das Rahmenabkommen im Mai 2021 ist ein Stromabkommen in weite Ferne gerückt.

Damit werden die Import- und Exportkapazitäten der Schweiz potenziell massiv beschnitten, ohne dass wir etwas dagegen tun können.


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Stephanie Bos
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Communication Manager


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